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30.5.1996

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Klassenkampf an den Mittelschulen

Ein mensch-licher _Leserbrief

Umgekehrter Klassenkampf an den Mittelschulen

Hin und wieder druckt Biwidus LeserInnenbriefe ab, mit deren Inhalt sich nicht die gesamte Redaktion identifizieren kann. Wir denken, dass wir als Regionalzeitung auf dem Internet die Tradition von LeserInnenbriefen dennoch pflegen müssen. In diesem Sinne erscheint der nun folgende Text eines Lesers. Obschon Biwidus einer deutlich linken bis linksliberalen Linie folgt, übernimmt die Redaktion keine Verantwortung für den Inhalt dieses Briefes. Trotzdem möchte ich hervorheben, dass sich einige von uns hinter den Autor stellen können.


Wildcat (EMail), leitender Redaktor von Biwidus

Umgekehrter Klassenkampf an den Mittelschulen

"Mit einer Aenderung des Unterrichtsgesetzes und des Lehrerbildungsgesetzes sollen die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, um von allen Studierenden an den kantonalen Mittelschulen und an den Seminaren ein Schulgeld erheben zu können." Diesen unscheinbaren Satz publizierte die Kantonale Informationsstelle aufgrund eines Beschlusses des Regierungsrates vom 8. Mai 1996. Während also die ganze Welt den 51. Jahrestag des Kriegsendes feierte, schaffte es der Regierungsrat, von vielen unbehelligt, eine der wohl ältesten und grundlegendsten Traditionen der Schweizer Bildungspolitik einfach mirnixdirnix über den Haufen zu werfen. Neuerdings sollen im Rahmen der ach so heiligen Schlagworte "Deregulierung" und "New Public Management" auch MittelschülerInnen zur Kasse gebeten werden.

Gut, es heisst, dass die unteren zwei Klassen unentgeltlich seien, was bedeutet, dass die GymnasiastInnen den VolksschülerInnen gleichgestellt sind. Man plant, wie schon lange bei Ausserkantonalen, nun auch für unsere MittelschülerInnen einen Semesterbeitrag festzulegen, vorgeschlagen sind Sfr. 400.- pro Semester, also Sfr. 800 .- pro Jahr an Kantis und Sfr. 1200.-/Jahr an Lehrerseminaren. Seit 1960 waren solche Beiträge aufgrund einer Volksabstimmung verboten. Während damals 6% der Jugendlichen maturierten, sind es heute 20%, die an die Unis drängen. Der Regierungsrat stellt lakonisch fest:"Aus dieser Sicht besteht keine Notwendigkeit mehr, für die Ausbildung an Mittelschulen mäglichst grosse finanzielle Erleichterungen zu gewährleisten." Die sinnlosen Zahlenspielereien von Buschor und Co. schliessen mit der Abakusnrechnung ab:"Sofern die Gesetzesänderungen in der Volksabstimmung gutgeheissen werden, wird mit Mehreinnahmen von jährlich rund 7.2 Millionen Franken gerechnet, wobei die Mehraufwendungen bei den kantonalen Studienbeiträgen und die Schulgelderlasse berücksichtigt sind."

So einfach ist das für sie, Herr Buschor. Nachdem die Semesterbeiträge an den Unis schon auf eine unverantwortliche Weise hochgesetzt worden sind, dürfen nun auch die Kleineren, die zukünftigen Studis, an die Kasse gebeten werden. Gell, Herr Buschor, genau so haben sie sich das überlegt: wie immer nach dem Zählrahmenprinzip. X Millionen-Y Millionen gibt Z Millionen, es ist doch alles in Butter. Nee, meine Herren, so läuft das nicht. Ab sofort haben sie nominal zu rechnen, nicht real (das macht nämlich kein logisch denkender Mensch).

1960 wurde per Volksabstimmung entschieden, dass den bildungspolitisch benachteiligten Unterschichten der Zugang zur Hochschulbildung (die nicht an der Mittelschule vorbeiführt) vereinfacht werden solle, damit auch Arbeiter-, Angestellten- und Bauernkinder mal studieren können. Der Sinn dieser Vorlage war es, den sozial entstandenen Unterschied quasi künstlich auszugleichen. Bildung für alle, hiess die Devise. Niemand sollte mehr den unmenschlich langen Weg durch sechs Jahre Mittelschule und 6-8 Jahre Uni scheuen müssen, nur weil seine oder ihre Eltern nicht genug Geld haben, um ihre Ausbildung (ohne das eigene kleine bisschen Glück zu gefährden) zu bezahlen.

Das System ging so gut auf, dass jetzt doch der eine oder die andere Studierende an Uni und ETH eben NICHT Sohn oder Tochter von Beruf ist. Dies, nur, weil man ihm oder ihr während zumindest der Mittelschulzeit nicht unnötig finanzielle Steine in den Weg gelegt hat. Herr Buschor, Ihre Kinder konnten sich vielleicht all die anfallenden Ausgaben für Bücher, Essen und Kopien an der Mittelschule leisten, weil sie nämlich einen reichen Vater haben. Aber wie steht es mit unseren Kindern? 1200 Sfr. pro Jahr sind viel, Herr Buschor, für Lehrlinge ist das ein Monatslohn. Nicht nur, dass die MittelschülerInnen vom Arbeiten abgehalten werden, um ihren Familien bei der Finanzierung ihrer eigenen Ausbildung zu helfen (bei DEN Aufgaben und Prüfungen!), nein, anstatt Geld zu bekommen, wie das ihre gleichaltrigen Ex-MitschülerInnen tun, müssen sie nun sogar dafür bezahlen.

Nein, das ist ein Schmarren. Auch - ja gerade erst recht - in der Zeit der Rezession muss der Grundsatz "Bildung für alle" gelten. Den Unterschichten muss der Zugang zu den Mittel- und Hochschulen wenn nicht vereinfacht, so wenigstens nicht zusätzlich erschwert werden. Ich finde es haarsträubend, Herr Buschor, wenn sie "Elternbeiträge", die gegen jeden logischen Grundsatz der sozialen Konvergenz verstossen, wieder salonfähig machen. Weshalb, frage ich sie, möchten sie der ohnehin schon sozial benachteiligten Jugend aus den Unterschichten (ich denke da z.B. an Gastarbeiterkinder) den Zugang zu einer besseren Bildung erschweren? GERADE an den Hochschulen muss der Anteil von Kindern aus den Unterschichten gegenüber denjenigen aus der Mittel- und Oberschicht steigen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

"Kinder aus der Oberschicht haben es leichter" titelte der Tagi unlängst in einem Artikel. Die Feststelltung der Volkszählung 1990 war unter anderem:"Söhne und Töchter aus besserem Haus sind heute noch bei der Berufslaufbahn priviliegiert". Die Chancen für Kinder von "Akademikern und höheren Kadern" in die Mittelschule einzutreten, seien acht Mal grösser, als diejenigen von ArbeiterInnenkindern. Das Bundesamt für Statistik stellte fest, dass es zwar seit dem 2. Weltkrieg für diese möglicher geworden sei, sozial aufzusteigen, aber trotzdem: einmal arm - (fast) immer arm. Abgesehen davon:"Söhne und Töchter von Akademikern und höheren Kadern sind auf den Hochschulen übervertreten."

Ach, sie meinen, man könne ja Stipendien beantragen. Aber sonst geht es ihnen noch gut, ja? Haben sie schon mal selbst Stipendien beantragt, Herr Regierungsrat? Haben sie am eigenen Leib erfahren, was für ein Spiessrutenlauf das ist? Bürokratie und so? Und vor allem: haben sie noch nie daran gedacht, dass die meisten von uns vielleicht nicht bereit sind, Almosen zu verlangen. Denn Stipendien sind die "bildungspolitische" und etwas edlere Form von Sozialhilfe - oder etwa nicht? So nicht, meine Herren und Damen! Ich verlange, dass die Mittelschulen unentgeltlich bleiben, damit auch den SchülerInnen aus den Unterschichten eine zumindest theoretische Chance offen steht, sozial aufzusteigen.

Ich finde es degoutant, Herr Buschor, wie sie unverhohlen für eine Divergenz der Klassen kämpfen - im Namen der heiligen Sparwut. Hören sie auf, mit dem Abakus zu rechnen, und beginnen sie zu denken! Die Unterschichten sind Teil dieser Gesellschaft, und diese Gesellschaft hat sich GEFAELLIGST an den Mittel- und Hochschulen im gleichen Verhältnis abzubilden, denn so lange ist die Aufklärung nicht verwirklicht. Und eine Gegenbewegung ist sowieso eine Sauerei. Schon mal daran gedacht, dass der Sohn eines Schlossers oder die Tochter einer Näherin an der Uni vielleicht eine andere, eine entscheidend neue Perspektive einbringen würde, die der eingepennten Wissenschaft weiterhelfen könnte? Wohl kaum.

Bildung für alle, jetzt und für alle Zeiten! Das ist die einzige logische Lösung. Ich denke da auch an die Daumenschrauben an die Studierenden in Zürich. Wir weden auf die Strasse gehen, Herr Buschor, wir werden kämpfen - am Aktionstag gegen Sparmassnahmen am 25. Juni an der Uni. Und wir werden auch sparen - im Rahmen einer Spar-Modeschau der JUSO Zürich. Und dann sollen sie mal sehen, was es heisst, wenn man sich mit dem Fortschritt anlegt. Denn: wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.


Brendan Behan aus Zürich